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Über „richtig und falsch“ in
Corona-Zeiten

Rahmen

Vor ein paar Tagen veröffentlichte die Moderatorin Marlene Lufen ein Video über den Corona-Lockdown, das wie kaum ein anderes im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie in den letzten Wochen viral ging.

Mich berührte dieses Video sehr, denn sie sprach darin einen Gedanken aus, mit dem sich sicherlich die meisten von uns schon einmal auseinandergesetzt haben. Sie sprach über die gesellschaftlichen Folgen und Nebenwirkungen des Lockdowns. Auch wenn man Corona sehr ernst nimmt, die Maßnahmen befürwortet und die oberste Priorität des eigenen Verhaltens der Schutz der Risikogruppe und das Reduzieren der Kontakte ist, so gibt es sicherlich bei jedem von uns die eine Maßnahme die man mehr versteht und die, bei der es schwer fällt, den Sinn dahinter zu begreifen – wenn beispielsweise im Bundesland nebenan mit höherem Inzidenzwert eine andere, deutlich lockerere Regelung gilt …

Zurück zu Marlene Lufen. Die Moderatorin spricht von der Sorge, dass wir als Gesellschaft „in zwei, drei Jahren zurückblicken auf diese Zeit und dass wir denken, wir haben es falsch gemacht. Dieser Lockdown war das Falscheste, das wir hätten machen können. Zumindest über so einen langen Zeitraum.“

Sie spricht über all das Leid, das der Lockdown auslöst, über Existenzängste, aber vor allen Dingen über mentale Probleme, psychisches, aber auch physisches Leid, das dadurch verstärkt oder sogar ausgelöst wird. Bevor ihr weiterlest: Falls ihr das Video noch nirgendwo gesehen habt, schaut es euch hier an.

Als jemand, der als Teenager auch an einer Essstörung litt und seit Jahren mit einem Tinnitus kämpft (beides hatte ich hier bereits offen kommuniziert, denn ja, ich finde es sehr wichtig, in der rosaroten Social Media (Schein)welt auch einmal diese Themen zu besprechen) konnte ich viele Gedanken nachvollziehen – und mit den Betroffenen mitfühlen. Auch mir macht der Tinnitus aktuell mehr denn je zu schaffen und ich komme nur einigermaßen damit zurecht, da ich dank Freunden und Familie ein sehr stabiles Umfeld und viel Schönes in meinem Leben habe – und mir beruflich trotz zahlreicher coronabedingter Einschränkungen keine Sorgen machen muss, meine Miete nicht mehr zahlen zu können. Keine Ahnung, wie ich mit meinem Tinnitus klarkommen würde, wenn ich eine toxische Beziehung hätte und zudem jeden Tag auf ein leergeräumtes Konto starren müsste. Ich fühle sehr mit den Menschen mit, deren Leben im letzten Jahr so viel schwerer wurde.

Ich muss ehrlich sagen, dass ich Marlene Lufens Argumentation im ersten Moment fast bedingungslos zustimmte und deswegen das Video auf Instagram auch teilte. Sie machte auf die Nebenwirkungen des Lockdowns aufmerksam,  argumentierte hierbei seriös und sachlich und weit, weit weg von jeglichen „die Regierung will uns etwas Böses!“- Verschwörungstheorien. Sie kritisierte, dass oftmals zu starr nur auf Infektionszahlen geachtet wird und rückte stattdessen gesellschaftliche Probleme wie häusliche Gewalt in den Fokus, die aktuell in der öffentlichen Debatte rund um die Maßnahmen nur sehr wenig Beachtung finden.

Und jetzt kommt ein ABER. Das Video ging viral und wurde in den Medien extrem kontrovers diskutiert. Ich las in den Tagen darauf sehr viel darüber und hörte mir außerdem den Instagram Live Talk mit Dunja Hayali an. Ich fand es übrigens wirklich großartig, wie konstruktiv das Gespräch war. Eine Diskussion auf Augenhöhe, in der beide sehr respektvoll und bedacht mit den teilweise sehr unterschiedlichen Sichtweisen umgingen. Dunja Hayali befürwortet den Lockdown, hätte ihn gerne früher noch härter gesehen. Marlene Lufen hinterfragt ihn, auch wenn sie selbstverständlich auch dahinter steht, dass grundsätzlich Maßnahmen ergriffen werden. Und wenn man sich dieses Gespräch anschaut (hier könnt ihr es sehen), dann möchte man beiden Recht geben.

Um mal kurz zusammenzufassen, was die Hauptkritik von zahlreichen Journalist*innen und Expert*innen in den Medien an Marlene Lufens Video ist: Sie nennt keine Alternative zum Lockdown, lässt außen vor, dass viele mentale Probleme auch ohne Lockdown da wären – immerhin ist auch die Tatsache der Pandemie an sich extrem belastend. Ein weiterer Punkt, den Marlene Lufen so ganz sicher nicht wollte: sie bekommt viel Applaus aus den Reihen der „Querdenker“, die sich durch die Kritik der Moderatorin bestätigt fühlen – obwohl sie sich gleich zu Beginn des Videos klar von den Corona-Leugnern distanziert. Bei Volksverpetzer findet ihr übrigens einen sehr interessanten Faktencheck zu Marlene Lufens Video.

Nichtsdestotrotz finde ich es sehr, sehr gut, dass die Moderatorin die Probleme abseits der Pandemie anspricht. Es is unfassbar wichtig, dass über Suchterkrankungen und häusliche Gewalt gesprochen wird, das Thema „mentale Gesundheit“ jetzt mehr in den Fokus rückt. Denn ja, darüber MUSS gesprochen werden. Ich kenne in meinem gesamten Freundeskreis kaum jemanden, der die Situation nicht als extrem belastend ansieht, der in den letzten Monaten keinen mentalen Breakdown hatte. Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation, die unsere Generation niemals zuvor erlebte. Und es ist wichtiger denn je, dass wir auf unsere Lieben achten. Social Distancing, aber eben auch mehr Gespräche denn je mit der so wichtigen Frage: „Wie geht es dir wirklich?

So, und da wären wir bei dem Punkt, den ich heute eigentlich ansprechen will. Das Einordnen von „richtig und falsch“, das mir noch nie so schwer fiel wie im vergangenen Jahr. Wie gesagt, dass das Leugnen von Corona, das Verharmlosen und der Glaube an eine große Verschwörung falsch sind, darüber braucht man gar nicht erst zu sprechen. Wir sind uns alle einig, dass leugnen FALSCH ist. Auf dieser Ebene muss man auch gar nicht erst diskutieren, das will ich völlig außen vor lassen. Doch welche Maßnahmen sind wirklich richtig? Wie soll es weitergehen, wie werden die kommenden Monate aussehen? Was soll man befürworten?

Normalerweise bin ich jemand mit einer sehr starken Meinung, aktuell fällt es mir so schwer, eine klare Meinung zu haben, Maßnahmen als richtig und falsch einzuordnen. Es gibt immer unterschiedliche Meinungen, in allen Bereichen. Dennoch steht man normalerweise hinter seinen eigenen. Je mehr ich jedoch lese, je intensiver ich mich informiere, desto unsicherer werde ich. Es gibt wohl genauso viele, unfassbar gut argumentierte Plädoyers für die Schulöffnungen wie dagegen. Um nur eines von unzähligen Beispielen zu nennen.

Es wird immer so viel Kritik an der Politik geäußert. Auch ich habe schon geäußert, dass ich nicht alles nachvollziehen kann. Ich glaube aber auch, dass, niemand von uns auch nur annähernd nachempfinden kann, wie viele Punkte in der Regierung abgewägt werden, was alles beachtet wird, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Jeder Maßnahme in dieser so noch nie da gewesenen Situation bringt aktuell viele negative Nebenwirkungen mit sich. Und das macht jede Entscheidung so verdammt schwierig. Das pauschale „Richtig“ gibt es vermutlich nicht. Ich ertappe mich oft beim Gedanken, ob wirklich alle Maßnahmen richtig sind. Ob die pauschale Schließung in so vielen Bereichen wirklich sein MUSS. Wieso dürfen die kleinen Läden nicht öffnen, wenn sie immer nur einzelne Personen mit Maske einlassen würden? Warum ist Distanzsport wie Tennis oder Golf nicht erlaubt? Ach Moment mal, da gibt es ja doch einige Bundesländer, in denen man nach wie vor spielen darf. Unabhängig von den Infektionszahlen. Ein Flickenteppich an Regeln, der zusätzlich verunsichert.

Selbst die Expert*innen sind so unterschiedlicher Meinung, dass man sich beispielsweise nach einer hitzigen Debatte in einer Talkshow meist „noch mehr lost“ fühlt als zuvor. Man wird nicht „schlauer“, sondern ist nur erschlagen von all den Argumenten. Wie kann ein Experte mit dem gleichen Wissensstand etwas befürworten und der andere dasselbe klar ablehnen? Was soll man denn nun als Laie als „richtig“ empfinden? Was wirklich RICHTIG war und ist, das wird man in vielen Punkten wohl erst mit großem zeitlichen Abstand sagen können.

An dieser Stelle möchte ich noch eine kleine Geschichte erzählen, die sich kürzlich im Supermarkt ereignete. Wir standen gerade an der Käsetheke, als neben uns eine hitzige Diskussion entflammte. Ein älteres Ehepaar – sie mit einer FFP2-Maske, er mit einer OP-Maske – diskutierte laut mit dem Supermarktleiter. Dieser bat den älteren Herrn, bitte eine FFP2-Maske aufzusetzen, er weigerte sich. Die beiden waren offensichtlich keine „Masken-Verweigerer“, der Herr plädierte lediglich darauf, die Maske tragen zu dürfen, die wenige Tage zuvor von der Bundesregierung als deutschlandweite Pflicht festgelegt wurde. Bayern verfolgt hier einen Sonderweg. In jedem anderen Bundesland dürfte er mit der OP-Maske einkaufen gehen, in München wurde er nach einer ziemlich unschönen Diskussion aus dem Supermarkt geworfen. Von einem Supermarktleiter, der selbst „nur“ eine OP-Maske trug, denn die Pflicht gilt nur für die Kunden.

Natürlich ist es Quatsch, im Edeka gegen die bayerische Sonderregelung zu demonstrieren. Die Angestellten führen nur gewissenhaft den Beschluss der Landesregierung aus und der Verstoß könnte eine Strafe für den Supermarkt mit sich bringen – das wäre sicherlich auch nicht im Interesse des älteren Herrn, der sich so leidenschaftlich beschwerte. Aber interessant ist der Ansatz an sich schon: Wer hat denn nun Recht? Bayern mit der FFP2-Masken Pflicht? Dann sollte diese schnellstens deutschlandweit ausgeweitet werden. Oder der Bund mit der Ansage „Medizinische Masken gehen auch!“? Dann sollte es keinen bayerischen Sonderweg geben. Was ist denn nun richtig, was falsch? Ein Dilemma …

So, und nun möchte ich wie immer an euch übergeben: Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr eure Gedanken zu diesem Thema in den Kommentaren mit uns teilen würdet. Wie habt ihr das Video von Marlene Lufen empfunden? Habt ihr seit Monaten eine klare Meinung zu allen Maßnahmen oder verunsichern euch die unterschiedlichen Meinungen der Expert*innen auch zunehmend?


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5 Kommentare

  • 05
    02
    2021
    21
    Tina

    Super Artikel! Gut zusammen gefasst, klar ist die Rede von Marlene Lufen gut und wir alle wollen keinen Lockdown, aber sie gibt keine Alternative, beleuchtet auch nur einen Aspekt und sie kritisiert nur und kritisieren ist einfach immer leichter…
    ich glaube wir sehen in Portugal gerade sehr gut was passiert wenn man zu früh lockert, wenn die Portugiesen in 3 Jahren zurück blicken sagen sie vielleicht kein Lockdown war das schlimmste was sie tun konnten…
    aber in Summe wissen wir es nicht, niemand und ich mochte nicht in der Haut eines Politikers sein den ich glaube auch sie haben keine einfache Zeit…

    Diese Zeit wird uns noch lange beschäftigen, leider…

  • 05
    02
    2021
    21
    Sabrina

    Ich finde es super, dass du dich hier in deinem Blog zu dem Thema äußerst!
    Es ist für alle wirklich nicht leicht und ich bin auch der Meinung, dass sich Kritik viel einfacher äußern lässt, als die passenden Lösungsansätze dazu. Da möchte ich mich nicht ausnehmen, auch ich habe in den letzten Wochen immer wieder manche Maßnahmen kritisiert, bei denen ich denke, dass sie keinen entsprechenden Nutzen haben.
    Und doch möchte ich nicht wissen wie viele schlaflose Nächte die Politiker haben, weil sie die ganze Zeit darüber nachdenken was denn das Beste für alle ist.. Denn so wirklich weiß es ja niemand, auch nicht in anderen Ländern, da klappt es bei uns eh noch ganz gut.
    Ich habe zwar keine finanziellen Probleme, aber trotzdem belastet mich die Situation und ich komme mal besser und mal schlechter damit klar meine Freunde und Kollegen nicht sehen zu können. Deshalb versuche ich mir immer die Hoffnung auf eine baldige Zeit nach Corona zu behalten und schmiede schon Pläne was ich dann alles machen will, das macht mir Mut.
    Ich wünsche euch alles Gute! :)

  • 06
    02
    2021
    21

    Sehr schön geschrieben, so ehrlich und gleichzeitig so realitätsnah. Ich denke, dass wir alle innerlich eine Meinung zu diesem Thema haben, die durch unterschiedliche Perspektiven/Situationen/Auseinandersetzungen verändert und manipuliert werden. Und manchmal frage ich mich, ob wir nicht anders handeln würden, wenn wir darüber sprechen könnten (Familie, Freude, Kollegen) Unterschiedliches Denken ermöglicht nicht nur eine Perspektivübernahme sondern evtl. auch die Möglichkeit seine Sichtweise zu überdenken und über den Tellerrand zu schauen.

  • 10
    02
    2021
    21
    moni

    Liebe Sarah, ich finde es toll wie viele Gedanken Du dir machst, alle Seiten abwägst und für uns klar und nachvollziehbar darstellst.
    Ich persönlich habe keinerlei finanzielle Einbußen, was mich aber mürbe macht sind die fehlenden Perspektiven….
    Warum hört die Bundesregierung nur auf Virologen und niemanden aus der Wirtschaft?
    Warum wird seit über einem Jahr nur Angst geschürt und tote Menschen gezeigt oder verkündet?
    Warum ist jeder, der seine Meinung in unserem Land frei äußert sofort ein Querdenker oder rechts eingeordnet?
    Diese Themen beschäftigen mich und machen mich traurig und machtlos….

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