In den vergangenen Jahren schrieb ich schon des Öfteren über das Erwachsenwerden. Diesen langen Prozess, den man gewiss nicht an einem bestimmten Geburtstag festmachen kann.
So oft denke ich auch noch mit Mitte 30, dass ich doch noch gar nicht richtig erwachsen sein kann, wenn sich viele Dinge noch genauso anfühlen wie damals in der Teenagerzeit. Das Lieblingsessen bei den Eltern. Zeit mit Freunden zu verbringen und gemeinsam über die Geschichten aus der Schulzeit lachen. Auf den Song tanzen, den wir damals schon in der Disco geliebt haben. Das Wohnzimmer der Eltern betreten. Zusammen eingekuschelt auf der Couch sitzen und Tee trinken. Mit den richtigen Menschen fühlt es sich so an, als wäre keine Zeit vergangen, auch wenn teilweise 20 Jahre zwischen den Ereignissen liegen.
„Die Welt noch einmal mit Kinderaugen sehen“. Das ist etwas, das Eltern oftmals sagen, wenn sie den Zauber beschreiben, den das Elternsein mit sich bringt. Auch ohne eigene Kinder war es mir immer wichtig, einen Teil des „mit Kinderaugen sehen“ immer beizubehalten. Nicht nur durch das Leben zu hetzen, immer nach „höher, schneller, besser“ zu streben. Im Hier und Jetzt sein. Die Freude über die kleinen Dinge. Die Wunder der Natur schätzen. Die Achtsamkeit bei einem Spaziergang. Der Schmetterling, der sich auf die Blüte setzt, die Walderdbeeren am Wegesrand, die Gräser, die sanft im Wind wehen, die Pferde, die auf der Weide stehen.
Doch da ist etwas, das im Laufe der Jahre verloren ging. Wir Erwachsene werden niemals wieder die vollkommene Unbeschwertheit haben, die wir als Kinder genießen durften. In unserer Kindheit sind unsere Eltern diejenigen, die Verantwortung für uns tragen und dafür sorgen, dass wir nichts Falsches tun. Im Erwachsenenalter sind wir es, die bei unseren Entscheidungen rational denken müssen. Kindliche Naivität weicht Vernunft und Verantwortung. Das „Leben nur in diesem einen Moment“ funktioniert in unserer Freizeit, aber in unserem beruflichen Leben, ja auch der Bewältigung unseres Alltags ist das Planen, das „an die Zukunft denken“ ein fester Bestandteil. Unsere Perspektive ändert sich. Wir machen nicht mehr einfach nur, sondern denken an die Konsequenzen. Etwas, das mir gestern wieder einmal auffiel, als sich ein Teppich aus glitzerndem Schnee über München legte. Und weshalb ich heute diese Gedanken niederschreibe.
Wir liefen gestern mit Fiete an der Isar entlang und hatten so viel Spaß, diesem süßen, kleinen Hund dabei zuzusehen, wie er voller Begeisterung durch den Schnee hüpfte, Haken schlug – die Schnauze von Schneeflocken umrandet. Wir liefen gerade unter der Wittelsbacherbrücke hindurch, als direkt vor uns ein riesiger Schneeball auf den Boden krachte und eine Frau, die in diesem Moment unter der Brücke hervorkam, nur um wenige Zentimeter verfehlte. Sie erschrak extrem und die Kinder oben auf der Brücke hatten den Spaß ihres Lebens. Auch mich verfehlte ein Schneeball kurz darauf nur knapp. Mein erster Gedanke: Wie leichtsinnig! Die Kinder haben den großen Schneeball einfach drauflos geworfen, ohne vorher zu schauen, wer die Person ist, die sie treffen wollen. Es hätte eine alte Frau sein können, die ausrutscht und sich etwas bricht. Oder ein kleines Kind, das bitterlich anfängt zu weinen. Den Jungs ging es nur darum, Spaß zu haben und jemanden zu erschrecken. Und ja, ich weiß, dass ich sowas früher natürlich auch gemacht habe. Ohne auch nur im geringsten an die Konsequenzen zu denken. Erwachsene, die etwas zu meinen Freunden und mir sagten, das waren immer die Spießer. Wie sehr mich meine Eltern nervten, die mir mögliche Konsequenzen meines Handelns aufzeigten. Sooo spießig!
Eine weitere Situation erlebte Chris wenige Stunden später, als Jugendliche mit voller Wucht einen großen Schneeball in ein offenes Fenster in unserer Straße schmissen. Ohne darüber nachzudenken, wen oder was sie mit diesem Schneeball treffen. Chris, der selbst definitiv ein leichtsinniger Jugendlicher war, spricht mittlerweile Jugendliche auf so etwas an.
Und da wurde mir gestern wieder einmal mein Perspektivwechsel klar. Mittlerweile bin ich „die Eltern“ (auch ohne Kind). Ich bin diejenige, die bei einem in den meisten Fällen völlig harmlosen Schneeball an mögliche Konsequenzen denkt. Die sich im Sommer nicht mehr ganz unbeschwert in die Blumenwiese legt, ohne an Zecken zu denken. Und die ab und an ihren ganzen Mut zusammennimmt (Ja, für schüchterne Menschen erfordert dies manchmal eine Extraportion Mut) um Jugendliche anzusprechen, die sich unhöflich gegenüber Älteren verhalten haben. Die sich über alberne Jugendstreiche, die nervige Konsequenzen für andere haben, aufregt. Bin ich deswegen spießig? Oder einfach nur erwachsen?
Ich finde es übrigens immer gut, wenn unbedachtes Handeln mit negativen Konsequenzen wichtige Learnings für sich selbst bereithält – solange die Konsequenzen ein gewisses Maß nicht überschreiten. Schwierig finde ich es nur, wenn man mit seinem eigenen Handeln Konsequenzen für andere, unbeteiligte Menschen schafft. Ersteres ist wichtig für die eigene Entwicklung, anderes oftmals einfach nur dumm. Und ja, genau diese Erkenntnis brachten viele Learnings irgendwo zwischen meiner Kindheit und dem Jahr 2022.
Ich muss immer wieder schmunzeln, wenn ich an meinen in meiner Jugenderinnerung „ach so strengen Papa“ denke, der mir zwar viel verbot, aber eigentlich deutlich mehr Freiheiten ließ. Aber als Jugendliche sah ich eben nur das Verbot und nicht all das, was ich durfte. 20 Jahre später weiß ich, wie recht er mit all diesen Verboten hatte, vor was er mich beschützten wollte, wie weitsichtig er war. Mittlerweile verstehe ich seine Perspektive zu 100% und wünschte, ich hätte als Jugendliche zumindest einen Hauch dieses Verständnisses gehabt. Genauso wie ich heute versuche, nicht immer nur die Konsequenzen eines Handelns zu sehen, sondern mir auch eine Prise Leichtsinn beizubehalten. Im Moment leben und auch mal etwas Unbedachtes tun. Der Versuch, beides in Balance zu bringen, gelingt mal besser, mal schlechter. Wie gelingt er euch?