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Ein
Gespräch
mit meinem
Papa

Rahmen

Heute möchte ich euch von einem Gespräch mit meinem Papa erzählen. Doch hierfür muss ich erst einmal ein bisschen weiter ausholen und mit der Vorgeschichte beginnen. Mein Vater wurde 1940 geboren, ist in der Nachkriegszeit aufgewachsen. Er hat viel erlebt, was meine Generation sich nicht mal ansatzweise vorstellen kann. Zum Beispiel, dass nur ein einziges Auto am Tag durch die Straße fuhr. Oder dass man im Internat als Strafe „Gras rupfen“ aufgebrummt bekam. Und Ohrfeigen von den Lehrern an der Tagesordnung waren. Er erzählte mir einmal, dass Obst klauen „in“ war. Nicht, um den Nachbarn zu ärgern, sondern weil sie als Kinder nie genug zu essen hatten. Mein Papa und seine drei Brüder wurden von seiner Mama alleine großgezogen. Sein Vater war im Krieg gefallen, als er gerade einmal zwei Jahre alt war. Etwas, das man in unserer Generation nur schwer greifen kann.

Wenn mein Papa von seiner Kindheit und Jugend erzählt, fühlt es sich oftmals „wie eine ganz andere Welt“ an. In diesen fast acht Jahrzehnten ist so unfassbar viel passiert. Von Smartphones und dem Internet hätte damals vermutlich niemand zu träumen gewagt – und heute bestimmen sie unser ganzes Leben.

„Früher war alles besser!“ ist ein Satz, den man von älteren Menschen des Öfteren hört. Mein Vater zählt nicht dazu. Er geht sehr reflektiert mit diesem Thema um und ist der Meinung, dass meine Generation von dem großen Fortschritt in fast allen Bereichen extrem profitiert. Aber eben nur in „fast“ allen Bereichen. Und genau darum drehte sich unter Gespräch. „Was war denn früher wirklich besser?“, fragte ich ihn. Er antwortete mir sehr ausführlich. Davon möchte ich euch heute erzählen.

Mein Papa mit seinem Zwillingsbruder im Jahr 1944

Meine Generation genießt ein Überangebot an Unterhaltung. Das ist in vielen Bereichen großartig. Aber das bedeutet auch: Oftmals werden Smartphone, Serien-Streaming und Co echten Unterhaltungen vorgezogen. Früher spielte das Zwischenmenschliche eine viel, viel größere Rolle. Die Menschen hatten deutlich weniger, waren in den Nachkriegsjahren in einer Notsituation, die wir uns kaum vorstellen können. Dadurch war der Zusammenhalt extrem groß. „Durch den heutigen Wohlstand gibt es mehr Individualismus … oftmals bedeutet das aber auch Egoismus, so mein Vater.

Meine Generation hat so viele Möglichkeiten, die in der Nachkriegszeit absolut undenkbar waren. Alles ist möglich – und genau das ist oftmals das Problem. Jeder strebt immer nach mehr und noch mehr und noch mehr …

Früher war die Mehrheit der Menschen materiell viel anspruchsloser, man war zufrieden mit dem, was man hatte. Wenn man überhaupt irgendetwas hatte. Die Schere zwischen „Arm und Reich“ ist heute deutlich größer. Und das bedeutet auch, dass das Thema „Neid“ in unserer heutigen Gesellschaft eine riesengroße Rolle spielt. Das finde ich persönlich sehr traurig.

Ein ganz signifikanter Punkt, den mein Vater betonte, ist folgender: Hatte man sich früher mit einem Freund verabredet, dann kam man auch zur vereinbarten Zeit zum vereinbarten Punkt. Das war gesetzt. Komme, was wolle. Heutzutage wird so oft „erstmal etwas zugesagt“, und dann doch wieder abgesagt. Weil man eine bessere Option hat, weil der Tag zu stressig war oder einer von vielen, vielen anderen teils kleinen, teils großen Gründen. So oft kommt heutzutage „etwas dazwischen“. Das war früher nicht so. Mal abgesehen davon, dass es heute viel mehr „potentielle andere Optionen“ gibt, gab es früher schlicht und einfach keine Möglichkeit, eine Verabredung abzusagen. Es gab nicht nur keine Smartphones, die meisten Familien hatten nicht einmal ein Telefon zuhause. Wie also sollte man mit demjenigen in Kontakt treten, mit dem man eine Woche zuvor mündlich etwas vereinbart hatte? Unvorstellbar für meine Generation, in der jeder immer und überall erreichbar ist. Per Anruf, per WhatsApp … oder aber über Facebook … oder Instagram Direct Message. Irgendwie erreicht man denjenigen, den man erreichen möchte, immer. Lustigerweise nutzt in meinem Freundeskreis kaum jemand mehr das Festnetz, das in meiner Kindheit das Nonplusultra war. Wie das wohl in 50 Jahren aussehen wird?

Unsere Generation hat viel mehr Chancen als jede andere Generation zuvor – dass das nicht immer gut ist, wissen wir längst. Spätestens seit uns allen bewusst ist, dass die für uns selbstverständliche „alles ist möglich“-Lebensweise der vergangenen Jahre der Umwelt immens schadet und wir dringend in eine andere, nachhaltigere Richtung blicken müssen. Das ist zwar ein weiteres, sehr wichtiges Thema, heute steht jedoch etwas anderes im Mittelpunkt.

Ein kleines Beispiel: Früher hatte man im kleinen Tante Emma Laden kaum Auswahl, konnte nur einen Bruchteil der Lebensmittel kaufen, die für uns heute selbstverständlich sind. Dafür traf man dort immer das halbe Dorf und führte die schönsten Unterhaltungen. Es gab in jedem Ort kleine Geschäfte wie Bäcker und Metzger, keine riesigen Supermärkte. Man verbrachte dennoch viel Zeit dort, denn man hatte Freude daran, sich mit den anderen Kunden zu unterhalten. Zwischenmenschliche Gespräche waren wichtig. Nicht nur mit dem engen Freundeskreis, sondern auch mit den entferntesten Bekannten. Denn klar, zuhause warteten nicht Netflix und Co für eine permanente Dauerbeschallung. Ich muss gestehen, dass ich persönlich in meinem 2019-Alltag oftmals mit Kopfhörern durch den Supermarkt laufe. Mit völlig Fremden ein Gespräch führen, da man gerade gemeinsam an einem Supermarktregal steht? Nee, lieber nicht … und das ist eigentlich total schade.

Ein weiterer Punkt, den mein Papa in diesem Zusammenhang positiv hervorgehoben hat? Es gab damals weniger „Hektik“. Kaum jemand musste von Termin zu Termin hetzen, stand unter Dauerstrom. Burn-Out und Co gab es nicht. Den Höher-schneller-besser-Druck auch nicht. Man handelte bedachter, achtete viel mehr auf „die kleinen Dinge“. Und genau das ist doch das, wonach wir heutzutage streben. Wir möchten achtsamer sein, unser Leben und all die schönen Dinge bewusster wahrnehmen. „Achtsam leben“ – das war damals selbstverständlich.

Natürlich kam ich nicht darum, ihm auch die Folgefrage zu stellen: „Und was ist heute besser?“ Die Antwort möchte ich im zweiten Teil dieser Kolumne mit euch teilen.


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5 Kommentare

  • 04
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    Juliane

    Was für ein schöner Post! Danke dass du uns daran teilhaben lässt. Wie wertvoll ist es regelmäßig zu reflektieren, inne zuhalten und zuzuhören. Ich kann den zweiten Teil gar nicht erwarten.

  • 04
    10
    2019
    19
    Sarina

    Was für ein tolles Interview. Dein Vater hat dich sicher viel gelehrt.

  • 04
    10
    2019
    19
    Alexandra

    So ein wunderschöner Post. Das wertschätze ich an Josie Loves so ungemein. Ich habe den Bericht zweimal gelesen und möchte einfach Danke sagen. Du hast einen wundervollen Vater der dir sicher viel mit auf den Weg geben konnte.

    1. 04
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      2019
      19
      ANNA-NY

      Super Kolumne, mein Papa ist Jahrgang 1939 und ich erkenne viele Dinge wieder,allein mit 3Geschwistern von der Mutter aufgezogen da der Papa im Krieg war und dann eine Scheidung folgte. Obst und Gemüse klauen,auf dem Bauernhof für Lebensmittel arbeiten und Felder sensem sbernten, barfuß laufen von März bis Oktober da man keine gescheiten Schuhe hatte,und Einmachgläser für den Winter vorbereiten.Das mit dem spontan Absagen fällt mir auch negativ immer wieder auf.Leider ist das sehr unzuverlässig.
      Ich mag deinen Blog supergerne.Bin gespannt auf Teil2.

  • 06
    10
    2019
    19
    Marla

    Diese Unverbindlichkeit bei Verabredungen ist mir und meinen Freunden nach wie vor fremd. Es gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Sprich: Die zuerst getroffene Vereinbarung zählt. Absagen wegen Krankheit o.ä. natürlich ausgenommen. Und seien wir doch mal ehrlich: Die scheinbare Beliebigkeit der Dinge ist genau das: Beliebiger Schein. Einfach mal bei dem sein, was man gerade tut, ohne schon wieder tausend andere Dinge auf dem Schirm zu haben, das ist doch die beste Option.

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