Vor einem Monat ging der erste Teil meiner Kolumne „Ein Gespräch mit meinem Papa“ online und ich freue mich total, dass dieses Herzensthema zu den meistgelesen Artikeln der letzten Zeit zählt.
Ich finde es unglaublich spannend, mich mit meinem Papa über „früher“ zu unterhalten. Es ist schwierig zu greifen, wie sehr sich die Zeit seiner Jugend von 2019 unterscheidet. Davon hatte ich euch ja auch bereits in meinem ersten Teil erzählt. Mein Papa durfte damals eine weiterführende Schule besuchen, was in der Nachkriegszeit keinesfalls selbstverständlich war. Sein Zwillingsbruder und er waren musikalisch extrem talentiert und so kam es, dass sie von der Stadt die Chance bekamen, ein Internat fern von zuhause zu besuchen und dort das Abitur zu machen. Ein Abitur in den Fünfzigern war völlig anders zu bewerten als in der heutigen Zeit. Es war etwas Seltenes. Und somit stand dem glücklichen Abiturienten die Welt offen. Aber irgendwie auch nicht.
Genau hier wären wir wiederum bei der Frage, um die sich die heutige Kolumne dreht: „Und was ist heute besser?“Klar, an allererster Stelle sind es natürlich all die technischen Innovationen, der immense medizinische Fortschritt und die unfassbare Entwicklung, die wir als Industrienation in den vergangenen Jahrzehnten durchlebt haben. Doch unser Gespräch drehte sich vielmehr um Zwischenmenschliches und die Möglichkeiten, die man für die Gestaltung seines Lebens in den Fünfzigern hatte und heutzutage hat. Hier fällt die Antwort meines Papas klar aus: „Die Chancen, sich selbst zu verwirklichen und die eigenen Träume zu erfüllen. Die vielfältigen Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung.“
An dieser Stelle weiß ich, dass er beim Lesen der folgenden Zeilen mit den Augen rollen wird, denn ich kenne keinen bescheideneren Menschen als meinen Papa. Er hasst es, wenn man ihn lobt bzw. eines seiner Talente hervorhebt. Aber ich möchte euch ein bisschen mehr von ihm erzählen. Mein Papa ist der musikalischste und musikbegeisterte Mensch, den ich jemals getroffen habe. Es gibt glaube ich kein Instrument, das er nicht „irgendwie zumindest ein bisschen“ spielen kann. Und für ihn gibt es nichts Größeres, als Stücke zu arrangieren, eine zweite Stimme für einen Song zu schreiben oder einfach mit einer kleineren oder größeren Band zu musizieren. Mittlerweile übrigens meist als Bassist oder am Vibraphon. Doch das ist nicht sein einziges Talent. Er war (und jetzt rollt er sicherlich schon wieder mit den Augen) unfassbar begabt im Zeichnen. Ich konnte gar nicht glauben, dass diese Bilder wirklich von ihm sind, als ich erstmals Zeichnungen aus seiner Kindheit sah. Und er hatte Freude an Mathematik und Naturwissenschaften. Architekt wäre ein Traumberuf gewesen, neben dem des Berufsmusikers natürlich. Wieso ich euch das erzähle? Weil er sich nach seinem Abitur gegen eine Zeit als Musiker im Ausland entschied und stattdessen das Lehramtsstudium wählte. Warum? Weil es damals (im Gegensatz zu heute) das kürzeste Studium war. So hatten er und sein Zwillingsbruder (der sich für den gleichen Weg entschied) die Möglichkeit, relativ früh eigenes Geld zu verdienen und ihre Mutter zu entlasten. Er war gerne Lehrer und hatte Freude an diesem Beruf. Dennoch sagt er klar, dass er mit den Möglichkeiten, die meine Generation heute hat, etwas anderes machen würde.
Das Thema „Selbstverwirklichung“ hatte damals einen völlig anderen Stellenwert als heute. Theoretisch (denn nicht jeder will diese Chance ergreifen – und natürlich gibt es auch heutzutage Hürden, die große Träume zunichte machen können) kann jeder von uns alles machen und seine beruflichen Träume verwirklichen. Und für diese Chance sollten wir SEHR dankbar sein. Ich persönlich wusste bereits in frühen Jahren, was ich beruflich machen möchte. Letztendlich wählte ich ungeplant einen höchst unkonventionellen Weg – und trotz viel Gegenwind in ihrem Freundeskreis unterstützen mich meine Eltern (an dieser Stelle muss ich mich nicht nur bei meinem Papa, sondern ganz genau so auch bei meiner Mama bedanken) immer von ganzem Herzen. Dass ich ganz genau das machen darf, was mir eine sehr große Freude bereitet, sehe ich nach wie vor als großes Privileg, das ich extrem zu schätzen weiß.
Doch gehen wir noch einmal kurz zurück zu den anderen Dingen, die „heute besser“ sind. All die Technologien, die uns das Leben erleichtern (sollen). Sehr spannend fand ich übrigens seine Aussage, dass ihm bei jedem positiven Aspekt, der mit all den technischen Innovationen der vergangenen Jahrzehnte einhergeht und der Vielfalt an Möglichkeiten in nahezu jedem Bereich, auch etwas Negatives dazu einfällt. „Oftmals ist der Vorteil des Einen der Nachteil des Anderen.“ Die Informationen sind besser, vielfältiger und verbreiten sich natürlich viel, viel schneller. Allerdings gibt es dadurch auch ein Überangebot, eine Reizüberflutung von allem. Die neuen Technologien lassen zu, dass nichts unmöglich ist. Das kann sehr positiv, aber auch ausgesprochen negativ sein. Letztendlich ist es wie bei allem: Es kommt darauf an, was man daraus macht und wie man dieses riesige Angebot für sich selbst nutzt.
Noch abschließend ein weiterer Punkt, den mein Papa sehr positiv hervorheben wollte: Heutzutage gibt es mehr Toleranz gegenüber Andersgläubigen in nahezu allen Bereichen. Und wir Frauen haben deutlich mehr Rechte als früher. Klar, es gibt immer noch überall Verbesserungspotential, aber wir sind in den vergangenen Jahrzehnten doch schon ziemlich weit gekommen, nicht wahr?