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Dieser verrückte Mix aus Freude und Überforderung

Rahmen

Es gibt da ein neues Gefühl, das wir alle vorher wohl so noch nicht kannten. Und da im Freundeskreis in den letzten beiden Wochen fast jeder entweder selbst begann, davon zu erzählen, oder mir mit kräftigem „I feel you“-Nicken zustimmte, dachte ich mir, ich möchte dieses Gefühl auch hier in Worte fassen und in Form einer Kolumne niederschreiben.

Ich schaue gerade aus dem Fenster unserer Wohnung im Glockenbachviertel. Die Schanigärten platzen aus allen Nähten. Der Lautstärkepegel ist so hoch wie eh und je, die Menschen lachen, sitzen in größeren Gruppen zusammen und genießen das Leben. Ich freue mich, das zu sehen. Das Leben, das wieder auf die Straßen meines geliebten Viertels zurückgekehrt ist und nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen stattfindet. Die Atmosphäre, die ich so an diesem Ort liebe. Aber gleichermaßen bin ich nach zwei prall gefüllten Wochen und am Tag, bevor wir das erste Mal seit langem wieder ins Ausland reisen werden, erleichtert, nicht „mitten drin“ zu sein. Ich genieße die Atmosphäre aus sicherer Distanz von meinem Wohnzimmerfenster. Beobachte, statt mich selbst ins Getümmel zu stürzen. Denn irgendwie haben mich die letzen beiden Wochen bei aller Freude auch ziemlich überfordert.

Es ist gar nicht so einfach, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Ich möchte es dennoch versuchen, ohne dabei undankbar zu klingen. Denn das bin ich ganz gewiss nicht. Ich freue mich so sehr über all die neuen, alten Optionen, die wir plötzlich wieder haben. Aber kennt ihr es auch, das „ich freue mich gerade so, so sehr, dass so viel wieder möglich ist, aber irgendwie überfordert mich das alles im gleichen Moment auch total“-Gefühl?

Plötzlich, mit einem gewaltigen Paukenschlag, ist fast alles wieder möglich. Die Inzidenz sinkt und sinkt und sinkt. Eine Lockerung nach der anderen wurde in kürzester Zeit vorgenommen. Klar, mit 50.000 anderen Menschen zusammen auf einem Konzert beim Lieblingssong mitsingen oder aber eng an eng im Club tanzen wird auch in allzu naher Zukunft nicht passieren (Wobei, wer weiß?), aber ansonsten ist mehr möglich, als wir es uns noch vor ein zwei Monaten für diesen Zeitpunkt Mitte Juni erträumt hätten.

Und es ging soooo schnell. Nach einem halben Jahr „Winterschlaf“, in dem sich unser Alltag primär in den eigenen vier Wänden abspielte, jegliche Freizeitaktivitäten außerhalb schlicht und einfach nicht existierten und man diesen außergewöhnlichen Zustand plötzlich als „normal“ empfand, wird uns unser „altes Leben“ wieder zurückgegeben. Und obwohl man so, so sehr auf diesen Moment hingefiebert hat, ist man nicht so richtig ready, von 0 auf 100 zu gehen. Und es fühlt sich by the way gerade ziemlich strange an, viele Besucher bei der EM im Fußballstadion zu sehen und ganze Gruppen von Menschen, die sich auf der Straße überschwänglich umarmen. Hat man nicht gerade erst noch vor gefühlt einer Sekunde die liebsten Freunde mit einem unbeholfenen „Fuß an Fuß“-Stupser begrüßt?

Da sitzt man also plötzlich da und hat Optionen. Nahezu grenzenlose Möglichkeiten für die Abendgestaltung. Muss etwas absagen, da man schon etwas anderes vorhat. Und findet sich plötzlich dabei wieder, wie man eine „diese Woche kann ich leider nicht, da schon jeder Abend verplant ist“-Nachricht tippt. War nicht gerade erst vor einer Sekunde noch jeder Abend der Woche mit nicht mehr als wahlweise Netflix, einem Buch oder einem Telefon-Date verplant?

Das Verrückte: im vergangenen halben Jahr waren die Tage doch irgendwie auch gefüllt. Mit Arbeit, langen Spaziergängen (mit Fiete), Treffen mit einem sehr engen Kreis von Freunden, Video Calls, Home Workouts und jede Menge Netflix. Irgendwie bekam man die Tage immer rum. Und so richtig langweilig war es ehrlich gesagt fast nie. Vielmehr hatte man sich damit abgefunden, dass alles eben ganz anders ist. Wir hatten uns so richtig in den Lockdown-Trott eingegroovt. Außerdem gab es da diese Liste mit Dingen, die man während des Lockdowns erledigen will. Die ist bei mir by the way gerade einmal zur Hälfte erledigt. Wie sieht es bei euch aus?

Das Energielevel war in den letzten Monaten definitiv niedriger als sonst, und man war nach einem normalen Home Office Arbeitstag und abendlichem Serien-Marathon genauso erschöpft wie nach einem „14 Stunden am Stück unterwegs und mehrere Termine mit vielen verschiedenen Personen“-Tag, wie man ihn aus der Vor-Corona-Zeit kannte. Vor ein paar Tagen  saß ich tatsächlich vor meinem Handy und starrte auf die drei Termine, die an diesem Tag im Kalender standen – wohlgemerkt nur schöne Termine, auf die ich mich wirklich freute – und spürte ein „Wie soll ich das denn alles an einem Tag schaffen?“-Gefühl, wie ich es von früher nur von „100 berufliche Aufgaben an einem Tag, die 48 statt 24 Stunden erfordern würden“-Tagen kannte.

Vor kurzem meinte ich zu Chris „ich hätte gerne zwei, drei Übergangsmonate in München gehabt“. Vor dem Reisen. Nicht dass ich mich nicht freuen würde, dass es endlich wieder los geht. Wie sehr ich doch drauf hingefiebert hatte. Und ich habe ein Kribbeln im Bauch, wenn ich daran denke, wieder andere Länder bereisen zu dürfen. Vielmehr hätte meinem Kopf ein bisschen mehr „Step by Step“ gut getan. Ein bisschen mehr „von 0 auf 10 auf 20 auf 30“ statt „von 0 auf 100. Wisst ihr, was ich meinte?

Die Freude über Restaurantbesuche, lange Abende, die nicht mit der Ausgangssperre enden, einen prall gefüllten Terminkalender und viele, viele „das erste Mal seit über einem halben Jahr“-Momente könnte nicht größer sein. Und dennoch ertappte ich mich in den letzten Wochen nicht selten beim Gedanken „Ach, irgendwie bin ich ganz schön kaputt, so ein Abend auf der Couch wäre heute doch irgendwie am allerschönsten …“.

Wer fühlt mit? Ich freue mich wie immer sehr auf eure Gedanken in den Kommentaren!


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4 Kommentare

  • 13
    06
    2021
    21
    Lily

    Ich kann das voll nachvollziehen. Ich hätte mir auch einen Übergangsmonat gewünscht. Dann habe ich mir gedacht dass ich das ja auch ohne offizielle Regelung so handhaben kann. Aber ehrlich gesagt, ist das nicht so leicht. Denn dann kommt man wieder in die Rolle dass man sich vor allen Freunden rechtfertigen muss, warum man sich in der Innengastro noch nicht wohl fühlt, oder warum man gerade nur 2 Abende unter der Woche verplant will. Ich habe mich auch sehr an die viele Zeit mit meinem Mann gewöhnt und will nicht dass das zu kurz kommt. Als dann auch noch der Chef meinte dass wir ja ab Juli wieder regelmäßig 2 Tage ins Büro könnten war ich völlig überrumpelt- obwohl ich mich eigentlich mega freue meine Kollegen wieder zu sehen.

  • 13
    06
    2021
    21
    Veronika

    Kommt mir auch bekannt vor, so eine Art Wiedereingliederung wäre gut gesessen. Bei mir kommt noch in gewisser Art Angst dazu, dass mir all die Freiheiten wieder weg genommen werden, was wird im Herbst passieren?

  • 14
    06
    2021
    21
    Maren Bielarz

    Genau das kenne ich auch. Einerseits Freude, dass wieder mehr geht, andererseits Angst, dass ein dickes Ende nachkommt. Wir waren gestern zum ersten Mal seit vielen Monaten bei unserem Lieblingsgriechen essen. Draußen, bei schönstem Sommerwetter. Herrlich! Und endlich wieder Freunde treffen können, ein bisschen Shopping usw., alles klasse. Aber muss es immer gleich das – buchstäblich – volle Programm sein? Ich denke, eine maßvolle Zurückhaltung ist die in jeder Hinsicht gesündere und nachhaltigere Entscheidung.

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